1

Andere Kinder haben uns um unsere Eltern beneidet.

Es gab viel weniger Beschränkungen als sie zu Hause hatten. Nur zu großen Unfug und zu gefährliche Dinge wurden wir gehindert zu tun. Wir mussten nicht im Haus helfen. Und wir durften jeden mit nach Hause bringen.

Unsere Eltern wünschten uns viele Freunde, die wir hätten mit bringen können. Tatsächlich ist es nicht sehr häufig vorgekommen.

Eigentlich sollten wir uns mit vier Jahren schon selbst verwirklichen. Das Wort „Selbstverwirklichung“ benutzte damals freilich keiner. Es war nur so, dass wir selbst entscheiden sollten.

Sie stellten keine Regeln auf. Sie hatten die Befürchtung, unsre Möglichkeiten zu sehr zu beschränken. Uns etwas über zu stülpen. Uns zu manipulieren.

Niemandem zu nahe treten.

Nähe entsteht so nicht.

Als junge Eltern inmitten der pädagogischen Verunsicherung der 70er Jahre begriffen sie nicht, dass es möglich ist, Kinder in ihre eigene Welt mit zu nehmen und dennoch ihnen bei zu bringen, andere Ansichten zu respektieren. Und dass man sie akzeptieren kann, ohne deshalb die eigene Überzeugungen hintan zu stellen.

Unsere Eltern wollten uns die Freiheit lassen. Natürlich wurde ich als Kind auch nicht getauft. Ethikunterricht gab es noch nicht in einer Dorfschule, meine Mutter schickte mich in den evangelischen Unterricht. Wir hörten Geschichten und malten unsere Familie. Ich wusste bis zur sechsten Klasse nicht, dass ich nicht getauft bin. Eigentlich wusste ich nicht mal, was das Wort „Taufe“ heißt.

Vielleicht bin ich deshalb Theologin geworden.

2

Es gab jede Menge Dinge, die meine Mutter in Wut versetzte. Was aber galt, musste man selbst heraus finden.

Wütend wird man, wenn die eigenen Grenzen überschritten werden.

Kinder können sich jedoch nicht in Erwachsene hinein versetzen und selbständig deren Bedürfnisse erkennen.
Sie müssen lernen, wie sie sich zu verhalten haben. Doch das geht nur, indem man ihnen zeigt, was sie nicht dürfen und was sie tun sollen.

Einfache Zusammenhänge des eigenen Verhaltens mit Misserfolg und Erfolg, Strafe und Belohnung – Frustration und Wohlgefühl – können sie unmittelbar her stellen. Abstraktionen zwischen Handlung und Folge können sie nicht einschieben, können so nicht auf ihr eigenes Handeln reflektieren und folglich auch keine logischen Folgerungen ziehen, um aus ihnen allgemeine Regeln ab zu leiten. Regeln müssen wir ihnen geben.

Sie denken in Kategorien von gut und böse. Die Wut der Eltern ist für die Kinder eine Strafe. Sie können nichts anderes folgern daraus als dass sie selbst böse waren. Aber sie können nicht alleine die Regeln herausfinden, weshalb sie böse sind.

Was bleibt, sind unklare Schuldgefühle.

3

Und die bleiben.

Sie bringen ein Selbstbild des Ungenügens hervor. Man bleibt offenbar etwas schuldig. Doch man weiß nicht was.
Später als Teenager kann man abstrahieren und folgern. Die wahre Herkunft des Gefühls kann man nicht mehr feststellen. Man sucht nach Begründungen dafür, weshalb man sich ungenügend und unfähig fühlt.

Zu dick, zu dumm, zu hässlich…

Zuerst ist das Gefühl da. Dann entsteht die Begründung.

4

Die Versuche, mir ein gutes Selbstwertgefühl zu vermitteln, scheiterten kläglich.

Es ist nicht so, dass unsere Eltern mich als Teenager nicht gelobt hätten und gesagt, sie sind stolz auf mich. Doch es kam nigendwo an. Es gab keine Maßstab in mir, an denen ich hätte messen können, etwas erreicht zu haben. Es war nur das Ungenügen.

Die lobenden Worte waren nur Worte. Sie waren leer, bedeutungslos.

Selbstwertgefühl entsteht aus der Erfahrung, etwas geschafft zu haben, das einen Wert hat. Eine Bedeutung.

Werte gab es in meiner Familie nicht.

Jeder Mensch hat persönlich Werte. Die haben meine Mutter und mein Vater sicher immer gehabt. Sie sind weder orientierungslos noch amoralisch. Sie behielten sie für sich.

Es gab keinen gemeinsamen Maßstab. Was aber ist ein Lob wert, bei dem nicht zutiefst im Inneren klar ist, worauf es sich bezieht?

„Das hast du gut gemacht“ ist ein Lob ohne Wertmaßstab. Das „das“ darin ist Situations-bezogen.

Werte dagegen haben allgemeinen Charakter.

Selbst wenn nicht alle sie teilen, erheben sie inter-personalen Anspruch auf Gültigkeit. Sie können nicht rein privat gelebt werden. Werte, die auf das Leben und also auch auf andere keine Auswirkungen haben, sind wertlos.

Es kann nicht aus bleiben, dass unsere Werte auf einander treffen. Wenn man das umgeht, bleibt man einander fremd.

5

Meine Eltern haben nie gesagt, was ihnen wichtig ist.

Die Ansprüche waren hoch. Aber sie wurden behandelt, als ob sie selbstverständlich wären: Nichts nämlich, um darüber zu reden. Die Ansprüche waren unerreichbar. Ja, sie waren unbemessen.

Man musste besser sein, nicht gut.

Die Güte des Erreichten hatte keine Größenordnung, an der man sich hätte messen können, denn weder mein Vater noch meine Mutter bemaßen sich darin. Sie stellten sich selbst nicht in die Skala, um den Maßstab zu machen.

Meine Eltern wollten kein Maßstab sein. Ihre eigene Idee von Freiheit verbot ihnen, für sich ein zu stehen.

6

Vielleicht wussten sie selber nicht wirklich, wofür sie stehen. Sie wussten es wenigstens nicht von einander.

Die Geschichte hat tragische Züge.

Mein Vater liebt meine Mutter. Er will ihr seine Liebe zeigen. Er will ihr etwas gutes tun.

Meine Mutter sagt nicht, was sie will.

Er versucht es immer wieder. Doch was er auch tut, es scheint das falsche zu sein.

Er fühlt sich ungewollt. Er zieht sich vor den Fernseher zurück.

Wenn er doch etwas heraus findet, was ihr gefällt, übertreibt er es vor lauter Freude, etwas gefunden zu haben.

Statt Obst mit zu bringen, wenn er günstig in der Stadt etwas sieht, bringt er steigenweise Obst mit. Und meine Mutter steht tagelang in der Küche, um es zu verarbeiten.

Meine Mutter fühlt sich ungeliebt.

Meine Mutter sagt nicht, was sie sich wünscht. Mein Vater entscheidet, wie das Haus aussehen soll, was er für sie baut, und wo es liegen soll. Und meine Mutter sagt, sie wollte das gar nicht so.

Er baut es eigenhändig und mit der Hilfe von Freunden. Meine Mutter identifiziert sich nicht mit dem gemeinsamen Projekt. Sie fühlt sich als Erfüllungsgehilfe der Träume meines Vaters und als das Dienstpersonal, das hinter allen her putzt.

Sie hätten sich so wunderbar ergänzt. Wenn sie es geschafft hätten, einander zu ergänzen.

Meine Vater sitzt stundenlang hinter dem Computer. Er will meiner Mutter zeigen, wie sie am Computer arbeiten kann. Meine Mutter verweigert es, sich mit dem Computer zu beschäftigen.

Keiner fühlt sich angenommen. Jeder lechzt nach Aufmerksamkeit. Aber keiner spricht über sich.

Kommt es zu Diskussionen, hört mein Vater nicht mehr zu, weil er schon seinen nächsten Redebeitrag vorbereitet. Meinen Mutter entschwindet in die Küche, sie geht einfach und entzieht sich.

Es ist ein Spiel, bei dem es nur Verlierer geben kann.

7

Im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit aufgewachsen, sind sie als Kinder nicht ohne Schaden geblieben. Beide Familien sind Kriegsflüchtlinge.

Sie bekamen all das zu spüren, mit dem Flucht, Entwurzelung und die Erfahrung, nicht willkommen zu sein am neuen Ort, auch heute bei Flüchtlingen einher gehen.

Aber sie sprechen nicht viel davon. Ich weiß kaum etwas. Bruchstücke. Niemand spricht von sich selbst. Niemand spricht von der eigenen Familie.

Meine Mutter wurde nach dem Krieg zu Verwandten verschickt, um die Familie durch zu bringen. Sie durfte nichts eigenes wollen.

Sie wollte von zu Hause weg, als sie geheiratet hat.

Mein Vater verlor alles, was ihm als Kind so lieb war, vor allem auch die Tiere. Er hatte Träume, die er mit niemandem teilte. Viele seiner Ideen hat er verwirklicht, und doch blieb er mit seinen Träumen allein. An anderem ist er gescheitert. Er träumte zu viel allein.

Meine Eltern haben nach all ihren eigenen Erfahrungen kein Maßstab sein wollen. Das kann man gut verstehen.

Sie haben auch selbst nicht an ihren Vorstellungen und Werten gemessen werden wollen. Zu unsicher war alles.
Geschweige denn, dass sie die in Worte hätten bringen können. Offen einen Wunsch oder Anspruch formulieren.

Sie sprachen nicht darüber, was sie wollen.

Sie stellten sich dem auch nicht, dass ihre Kinder sie an ihren eigenen Maßstäben messen. Sie formulierten einfach weder Regeln noch Werte.

Sie schafften es nicht, für sich selbst ein zu stehen. Weil sie niemandem etwas überstülpen wollten. Im Namen der großen Freiheit.

Sie sind kein Gegenüber geworden, das positiv für etwas steht, weil sie nie gesagt haben, was sie wollen und wofür sie stehen. Sie schaffen es bis heute nicht, über ihre Wünsche, Befürchtungen und Werte zu sprechen.

Immer ist da die Angst, nicht gut genug für die anderen zu sein. Nicht wahr genommen zu werden. Verletzt zu werden.

Tiefes gegenseitiges Vertrauen ist nie entstanden.

8

So vererben wir unseren Kindern die Sünden, die wir einst selbst geerbt haben.

Wir übernehmen unreflektiert die Muster unserer Eltern oder versuchen es möglichst anders zu machen. Es gibt viele Wege, sich selbst aus dem Weg zu gehen.

Was wir nicht selbst sind, wird nie etwas gutes werden. Mit Selbstverwirklichung hat das wenig zu tun. Wir brauchen nicht all unsere albernen Vorstellungen von unserer eigenen Größe wirklich zu machen.

Liebe ist etwas anderes.

Niemand hat jemals genug geliebt. Und doch ist unsere kleine Liebe, die wir in unserem alltäglichen Leben verwirklichen, alles, was wir zu geben haben.

Es ist alles. Mehr gibt es nicht.